von Erwin Horning, Propst i.R.
Vom 3. bis 9. Mai reisten wir mit der Kelm-Gruppe nach Polen. Wieder waren wir zu Gast im Waldhotel Slesin. Gegen 21.00 Uhr dort angekommen, waren wir müde und abgespannt von der langen weiten Busreise.
Am andern Morgen waren wir ausgeruht und hatten gut gefrühstückt. Der erste Tag begann mit einer Andacht, die von Herrn Dr.h.c.Edwin Kelm gehalten wurde. "Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke", klang es im großen Speisesaal unserer Gastgeber.
Der Psalm 23: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln," leitete uns in den neuen Tag. Herr Kelm dankte für das Behüten und Bewahren auf der langen Busreise, dass wir wohlbehalten, gesund und ohne Unfall in Slesin angekommen waren. Die Erwartungen an die Tage waren groß. "Wir wurden zurückgeführt in die Tage der Kindheit und der Flucht. Wir müssen bekennen, dass Gottes bewahrende Hand über uns war und nun sind wir hier um schöne Tage miteinander zu erleben," sagte Herr Kelm
Am gleichen Tag suchten wir die Gedächtnisstätte auf und hielten einen Gottesdienst.
Dr. Kelm berichtete zuvor von jenen Tagen, Ende des Krieges 1945, von dem, was er selber als 16-Jähriger erlebt hatte:
"Es war am 20. Januar, da war die Straße voll von Flüchtlingswagen, ein Wagen am andern, zehn, zwanzig Kilometer bis ins deutsche Eck nach Schlüsselsee. Wir kamen einfach nicht vorwärts. An der Brücke am Schlüsselsee, da stauten sich die Wagen von Norden von Bromberg, die andern von Konin, alle drängten Richtung Westen und dadurch gab es kein Weiterkommen. Wir standen die ganze Nacht, vielleicht sind wir sechs oder acht Kilometer gefahren und dann am Morgen gegen neun Uhr, hörte man Motorengeräusch, dann hieß es: Panzer, die Russen kommen. Und schon nach wenigen Minuten fuhr der erste Panzer an uns vorbei. Was sich danach alles zugetragen hat, kann ich jetzt in diesem Augenblick nicht schildern. Aber es war Schreckliches. Nie im Leben hätte ich je gedacht, dass ich so viele tote Menschen sehen würde. Mein Vater kam zu mir und sagte: Wir müssen in den Wald, sonst erschießen sie uns noch auf dem Wagen.
Auf den Panzern saßen Soldaten, die immer wieder in den Flüchtlingstreck hineingeschossen haben. Dann sind wir in den Wald geflüchtet und vielleicht nach einer halben Stunde meinte meinten Vater und einige Andere, irgendwann würden die deutschen Truppen einen Gegenangriff machen und uns befreien. Wir sahen eine Gruppe von Soldaten auf uns zukommen. Der eine sagte: "Kommt her, wir sind auch deutsche Soldaten." Wir gingen auf sie zu. Ich hatte mich ganz hinten hinter den Männern gehalten.
Der eine Soldat gegenüber ruft auf einmal: Hände hoch! Und das Letzte, was ich von meinem Vater gehört habe, war, dass er zu den Soldaten sagte: Wir sind doch auch Deutsche. Und schon haben sie dann mit Maschinenpistolen auf die Männer und Frauen geschossen und mein Vater fiel in den Schnee. Das hat mich dann mein Leben lang begleitet. .
Ich bin dann weiter in den Wald Richtung Norden. Etwa 15 km von hier, gab es ein Haus, da hat noch Licht gebrannt. Ich suchte einen Unterschlupf. Ich war so müde von den zwei Tagen auf dem Flüchtlingswagen und war sehr hungrig. Ich habe dann angeklopft und eine Frau öffnete mir die Tür, und ich sagte: Ich bin so hungrig und bin so müde. Und sie sagte, ich solle reinkommen. Die Frau hat mir dann eine Milchsuppe gemacht. Im Kuhstall hat sie mir ein Bett gerichtet; denn sie durfte mich als deutschen Jungen nicht im Haus behalten. Am andern Morgen in der Frühe, als ich ausgeruht war, habe mich nicht mehr verabschiedet, bin ich gleich wieder auf die Flucht, weil ich Angst hatte. Über Schwerin an der Warthe in Richtung Westen, kam ich dann mit einem Pferdewagen mit einer Familie nach Berlin.
Und erst nach Jahrzehnten habe ich mich mit meiner Frau auf den Weg gemacht, diese Stelle aufzusuchen, wo die vielen Soldaten, Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder umgekommen waren. Man hatte die vielen Toten an eine Stelle gebracht, wo eine V 1 Rakete das Ziel verfehlte hatte und dort bei Slesin eingeschlagen war. Ein großer Trichter, viele Meter breit und tief. Man hat all die Toten von der Landstraße hierher gebracht. Ein Mann aus Slesin, der davon wusste, hat uns dahin gebracht und hat uns die Stelle im Wald bei Slesin gezeigt.
Mein Wunsch war, ob es nicht möglich wäre, hier an dieser Stelle, für die vielen Toten ein Gedenkstein zu errichten. Ich habe dann bei der Stadtverwaltung Slesin einen Antrag gestellt. Es ging hin und her. Ein junger Bürgermeister sagte, das kann nicht sein; denn auf der Gemarkung hier, gibt es kein Massengrab. Und es war gut, dass er diese Äußerung gemacht hat. Ein Stadtrat hat darauf hin geäußert, dass er von diesem Massengrab wüsste. Dann kam es im Rathaus zur Abstimmung und darauf bald wurde der Beschluss gefasst, dass Deutsche hier an diesem Platz eine Gedenkstätte einrichten dürften, wenn sie es wünschten. Über dem Gräberfeld sollte das Kreuz stehen mit dem bekannten biblischen Vers, da Christus spricht: .
"Ich bin die Auferstehung und das Leben.Dieses Gedenkkreuz ist allen Toten gewidmet, die im Januar und Februar 1945 in diesem Grab ihre Ruhestätte fanden. Die Toten mahnen uns Lebenden zur Versöhnung, zum Frieden und zur Völkerverständigung." .
Mittlerweile sind viele Hunderte Menschen hier gewesen. Aus Ludwigsburg war ein Mann da, er sagte:
Eine Polenreise ohne einen Besuch der Gedenkstätte, ist wie eine Suppe ohne Salz.Ich freue mich, dass die Gemeindeverwaltung jetzt auch ein Schild an der Hauptstraße angebracht hat und auf die Gedenkstätte hinweist. Dass vor allem jetzt erinnert werde an den Weg der Bessarabiendeutschen, der Wolhyniendeutschen , Galiziendeutschen; denn sie alle haben ja das gleiche Schicksal mit uns durchlebt. Hier ruhen viele evangelische und katholische Christen und viele Andere. Dafür, dass es uns möglich war, diese Gedenkstätte zu errichten, bin ich heute Gott dankbar. Seitdem diese Gedenkstätte errichtet worden ist, träume ich nicht mehr von den schrecklichen Ereignissen von damals. Als Kind hat man damals so vieles erlebt, dass man es einfach nicht abschütteln kann. Seitdem ich die Einweihung dieses Denkmales erlebt habe, bin ich ruhig und dankbar.Mein Wunsch war noch, die Frau zu finden, die mir damals die Tür öffnete und mir eine Milchsuppe machte und das Strohlager im Stall gerichtet hat. Wir fanden das Haus und ich habe wieder angeklopft. Eine hochbetagte Frau, mehr als fünfzig Jahre danach, hat uns die Tür geöffnet. Herr Professor Lange war mit dabei, er war unser Dolmetscher. Und ich sagte zu ihr: Erzählen Sie doch mal, was haben Sie damals am 20. Januar 1945 erlebt. Sie hat uns vieles erzählt, von den Russen, von den Toten, vom Krieg. All das weiß ich, sagte ich ihr, aber erzählen Sie doch, was Sie persönlich erlebt haben; und dann sagte sie:
Ich wollte die Kinder zu Bett bringen, auf einmal klopft jemand an die Tür, da stand ein kleiner, schwarzer Junge vor mir und sagte: ich hab so Hunger und bin so müde. Ich hab ihm eine Milchsuppe gemacht und dann hab ich ihm draußen im Kuhstall ein Bett gerichtet.
Und dann sagte Herr Lange, darf ich ihr es jetzt sagen, Herr Kelm? Ja, sagen Sie es ihr. Herr Lange sagte der Frau: Der kleine Junge von damals sitzt jetzt neben Ihnen. Und sie: Das kann nicht sein, der ist doch so groß und so dick!
Ja, so war es, aber ich durfte dieser Frau noch einmal begegnen, ihr diesseits der Ewigkeit noch einmal die Hand geben, noch mal danken, für alles, was sie mir Gutes getan hatte.
Später habe ich ihr einen Gehwagen besorgt, weil sie so schlecht gehen konnte, dazu noch eine Gehhilfe, einige gute warme Sachen für den Winter und anderes mehr. So durfte sie es noch einmal bewusst miterleben, was sie damals an dem kleinen deutschen Jungen getan hat. Als wir wieder einmal nach Polen kamen und sie besuchen wollten, sagten ihre Kinder, dass die Mutter verstorben sei, und so durften wir noch einen Kranz am Grab niederlegen.
Es hat sich vieles zugetragen. Aber dass wir heute hier stehen dürfen, das ist ein Zeichen der Verständigung unserer Völker.
Dass wir über Jahrzehnte Frieden miteinander haben dürfen, ist ein großes Geschenk. Für diesen Frieden und für diese Versöhnung und Völkerverständigung, möchten wir Heute und Morgen weiter arbeiten.
Ich bin sehr froh, lieber Herr Pastor Horning, dass Sie wieder mit uns gereist sind. Er hat schon mal hier eine Andacht gehalten. Wir möchten uns nun unter dem Wort der Bibel sammeln und Herrn Horning bitten um die Andacht." .
Die Andacht begann mit einem Vers aus dem Lied: "So nimm denn meine Hände." Gemeinsam wurde der Psalm 23 gebetet.
Ich möchte einiges wiedergeben, was ich in meiner Andacht vorgetragen habe.
Mich selbst bewegt es jedes Mal, vor dem Gedenkkreuz bei Slesin zu stehen, um unserer lieben Toten zu gedenken. Viele unserer Landsleute und Andere, haben auf dem Slesiner Gedenkfriedhof ihre letzte Ruhe gefunden. Man kann nicht anders, als davon zu sprechen, was einmal geschehen war. Viele wurden in die Flucht getrieben, gejagt verfolgt, gefangengenommen und getötet. Einige sind glücklicherweise davon gekommen, wie z.B. Herr Kelm.
Der Schmerz und die Trauer um unsere lieben Landsleute liegen tief in unserer Seele. Wir trauern um alle, die gestorben und auf dem Waldfriedhof begraben liegen. Wir danken Gott von ganzem Herzen, dass es uns möglich gemacht worden ist, jedes Jahr, wenn wir nach Slesin kommen, unserer Toten zu gedenken. Wir danken auch den Behörden von Slesin und darüber hinaus, dass wir uns in Frieden und Freundschaft treffen können. Wir bitten Gott, er möge unsere traurigen Herzen trösten durch sein lebendiges Wort.
Auf dem Gedenkkreuz stehen die Worte Christi: "Ich bin die Auferstehung und das Leben." Das ist die gute Osterbotschaft, die Jesus Christus hineinruft in die Welt des Todes. Wir blicken auf das Kreuz Jesu, weil er selber das Leben ist.
Der Wochenspruch in der ersten Maiwoche lautet: "Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben." (Johannes 10,11a-27-28)
Das sind trostvolle Worte der Bibel. Im Hören auf Gottes Wort, können wir alle Angst und Sorge fallen lassen. Und wir können darauf vertrauen, dass Gott selbst seine Gemeinde sammelt und erhält.
Fragen kommen auf wie z.B.: " Wo war denn Gott, als in jenen schlimmen Tagen solche Massaker geschahen?" Wir Menschen fragen zu Recht, aber wir wissen auch, dass das Leben nicht immer auf sonnigen Höhen geht. Denken wir an den Psalm 23, der von menschlicher Erfahrung spricht, oder an Jesu Leben selber, durch wie viele Tiefen Menschen auch früher gegangen sind.
Menschen auf der Flucht, was haben sie nicht alles durchleiden müssen. Oft hat es viele Unschuldige getroffen. Groß ist die Sehnsucht, auch heute noch, nach Politikern und Regierungen, die sich nicht selbst weiden, sondern sich für Menschen in Not einsetzen. Es ist eine große Sehnsucht da in der Welt nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.
Keine andere Kraft kann uns von Gott trennen, nicht einmal der Tod, weil Jesus Christus der Herr ist über Lebende und Tote.
Unsere liebe Toten sind nicht allein gelassen, sie sind geborgen in dem guten Hirten Jesus Christus, der selber sagt: "Ich gebe ihnen das ewige Leben und niemand wird sie aus meiner Hand reißen." Mit solchem Glauben sind wir bei Gott geborgen und niemand kann uns aus Gottes und Jesu Hand reißen.
Nach Gebet und Segen sangen wir gemeinsam: "Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn."
Professor Lange, ein polnischer Lehrer und Reiseleiter für unsere Landsleute, war mit seiner Gattin zugegen und er hat folgende Worte an unsere Gruppe gerichtet:
"Ich bin Lehrer von Beruf und ich möchte bei dieser Gelegenheit betonen, dass diese Gedenkstätte auch eine erzieherische Wirkung hat. Man muss schrittweise vorangehen, um die Vorurteile auf beiden Seiten unserer Völker abzubauen. Die sogenannten Unbelehrbaren, gab es und gibt es leider auf beiden Seiten immer noch. Aber es wurde in dieser Region ein großer Schritt getan. Früher wurde weniger über die deutsch-polnischen Beziehungen gesprochen. Ich höre jetzt immer wieder, dass das Denkmal hier im Slesiner Wald beiträgt zur Verständigung unter unseren Völkern. Das ist ein sehr großer Schritt. Vor acht oder zehn Jahren wäre gar nicht zu glauben noch zu denken gewesen, dass man sich hier so frei versammeln und frei sprechen hätte dürfen. Noch vor einigen Jahren hatten wir noch gewisse Bedenken, ob es nicht doch auch hier zu Schändungen kommt, wie in Deutschland oder auch in Polen auf den jüdischen Friedhöfen. Wir wollen auch weiterhin zuversichtlich sein, dass es so bleibt, wie es jetzt ist. Der Gedanke von Herrn Kelm, auf dieses Kreuz Worte zu schreiben, die besonders auch für den Polen als Katholiken sehr große Bedeutung haben, wie: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Und so kann ich mir das auch vorstellen, dass die Schlichtheit dieses Kreuzes und der Tafeln dazu beigetragen hat, dass das Denkmal bis heute und, wie ich hoffe, auch weiterhin, unversehrt bleibt. Das, was ich vorhin gesagt habe über die erzieherische Wirkung und die vielen Toten, ist ein Weg zur weiteren Verständigung unserer Nationen. Danke!" .
Viele unserer Reiseteilnehmer haben ihren Wunsch und ihr Ziel erreicht. Die Menschen, die besucht worden sind auf den ehemaligen polnischen Höfen, wo unsere Landsleute angesiedelt waren, haben vieles zu erzählen. Es war wieder ein großes Erlebnis, wie sich Menschen begegnen, die einst Kinder und Jugendliche waren in jenen Kriegsjahren und jetzt zusammenkommen, um sich zu verständigen. Einige Reiseteilnehmer berichten von den Erfahrungen mit polnischen Bürgern: .
"Mit einer Handzeichnung meines fast 85- jährigen Vaters, sind mein Mann und ich auf die Reise gegangen. Wir waren im September 1941 in Gnischau angesiedelt, 6-8 Kilometer vor Dirschau. Die Handzeichnung und die wenigen Notizen sagten, dass als erstes der Friedhof Subkow auf der damaligen Reichstraße 1 kommen würde. Wir waren also sehr gespannt und tatsächlich: an der rechten Seite sahen wir die Kirche des heutigen Subkowa. Wir erwarteten dort auf dem Friedhof, wir eine Grabstätte zu finden. Auf diesem Friedhof liegt mein Opa August Hämmerling, mein Onkel Otto Hämmerling und von Papas Bruder Reinhold der Sohn Johannes, ein kleines Baby. Wir standen dann tatsächlich vor alten, verwahrlosten Kindergräbern. An dieser Stelle legten wir Blumen nieder und sprachen ein Gebet. Es war doch eine Erschütterung, an diese Menschen zu denken.
Gut war, dass Herr Lange uns begleitet hat, denn die Fahrt ging weiter und nach ein paar Kilometern musste Gnischau kommen, und das war auch so. Wir fragten nach einer Familie Gehl, die hatten sieben Kindern auf unserm Hof bzw. nach einer Katharina, sie war als Hausmädchen tätig. Die Hoffnung war, von diesen vielen Geschwistern noch Verwandte zu finden. Und wirklich, die Familie kannte Gehls, sagte uns den Weg, wir fuhren weiter und plötzlich sahen wir einen alten Mann im Garten. Ich kriegte eine Gänsehaut, Herr Lange und ich stiegen aus und fragten den Mann, ob sie Gehls kennen, und er sagt: Anton Gehl bin ich. Man kann sich das nicht vorstellen, er nahm mich in den Arm, ich kann es nicht wiedergeben, so schwer fällt es mir. Man kann es nicht glauben, da steht ein Mensch im Garten und das ist genau der, der in meiner Liste aufgeführt war und zwar als letztes Kind, er hat mit der Helga und mit meiner Schwester Lilli gespielt. Er hatte mich noch so in Erinnerung, er ist Jahrgang 39, also zwei Jahre älter als ich, man kann sich das gar nicht vorstellen.
Die Leute haben neu gebaut und alles ist sehr schön gepflegt. Wir sollten Mittag essen, aber die Zeit war so kurz, weil wir einen weiten Weg hatten. Herr Lange hat es ihm erklärt, weil es uns wichtig war, die Hofstelle zu finden. Antons Frau machte gleich Kaffee, Gebäck und Schokolade standen schon auf dem Tisch. Auf die Frage nach dem Hausmädchen Katharina stellte sich dann heraus, dass sie nur acht Kilometer weit weg wohnte. Herrn Gehls Schwiegersohn fuhr los und holte sie und plötzlich stand eine 77jährige in der Tür. Es war gar nicht zu glauben. Wir sind auf die Hofstelle gegangen und Katharina zog mich zur Seite und wir gingen in den neu angelegten hübschen Garten und sie sagte dann: Helga, hier bist du geboren! Wir sind mehr als erfüllt von diesem Erlebnis. Abends habe ich meinen Vater angerufen und ihm davon berichtet. Die Polen selber waren so voller Gedanken an unsere Familie, weil meine Mutter mit uns kleinen Kindern alleine geflüchtet ist, und sie haben immer gedacht: Hat sie ihren Mann wieder gefunden? Ist sie mit den Kindern durchgekommen? Oder wie war das?
Nun standen wir bei ihnen vor der Tür. Es sind Adressen ausgetauscht worden und ich denke es wird noch weitere Begegnungen geben." .
"Jetzt habe ich aber Herzklopfen. Ich habe das Glück, dass ich mit Herrn Albert Handel hier sein kann. Ich kenne ihn schon seit dreißig Jahren, ich kenne seine Eltern und habe viele, viele Berichte gehört und habe mich immer gefreut, weil die Familie viele Kinder aufweist, wenn man da am Tisch sitzt mit einer großen Familie, die ich persönlich leider vorher nicht hatte. Da hat man vieles erfahren. Als der Albert gesagt hat: Weißt du was, jetzt gehen wir einfach mal mit, da wird eine Reise angeboten. Nichts lieber als das. Ihnen, lieber Herr Kelm und Ihrer lieben Frau, die sie so tatkräftig unterstützt, haben wir das zu verdanken. Die Familie Hörer und wir, wir haben uns zusammengetan. Wir hatten das Glück, dass unser Taxifahrer recht gut Deutsch konnte; wir konnten ihm gut vermitteln, wohin wir wollten. Wir zwei, die wir fremd waren, wurden von den Leuten dort auch so herzlich aufgenommen. Wir haben Kaffee bekommen und wurden in die gute Stube hereingebeten. Die Leute waren sehr einfach, aber sie waren so was von herzlich, es war für uns ein Erlebnis und wir haben miteinander Tränen in den Augen gehabt, weil uns die Leute so lieb empfangen haben.
Wir wurden dann weitergefahren nach Ponjatow, das ist ein ganz kleiner Ort, wo Herr Handel geboren wurde und zwei Jahre gelebt hat. Dann haben wir uns die Häuser angeschaut und konnten nicht genau das Ziel finden, aber wir haben zumindest den Boden betreten, wo die Eltern zwei Jahre waren. Auf der Heimfahrt waren wir überglücklich. Ich freue mich, dass ich als Fremde, ich bin ja aus Dresden und bin auch mit meinen Eltern geflüchtet, aber in eine ganz andere Richtung, dass ich hier sein darf. Und ich möchte mich ganz herzlich bedanken, dass die Leute alle so nett hier sind." .
"Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen.
Ich war letztes Jahr mit Herrn Kelm und mit der Gruppe schon mal hier und habe dann eine Taxi besorgt in Bromberg. Da waren sieben Taxifahrer und keiner konnte Deutsch sprechen. Ich habe es auf mich genommen und gesagt, in Gottes Namen, wenn auch keiner Deutsch versteht, dass ich wenigstens einmal dort war und etwas filmen kann. Wir fuhren hin, habe mich aber nicht getraut, dort in die Höfe zu gehen, dort wo mein Großvater war und zu dem Hof, und wo meine Eltern waren. So bin ich nur ausgestiegen um etwas zu filmen und teilweise dann durch das Dorf gefahren, und habe nur so aus dem Fenster raus geknipst. Als wir im letzten Jahr am elterlichen Hof vorbeifuhren, hätte ich die Hände über den Kopf zusammenschlagen können. Wer meinen Vater kennt, der kann sich das vorstellen, was aus dem Hof dann wurde. Er hat einen neuen Stall aufgebaut. Und jetzt wächst das Unkraut mitten auf dem Hof. Herrn Lange sage ich recht herzlichen Dank, dass er sich bemüht und uns geholfen hat, uns einander zu verständigen. Wir fuhren auf den Hof unseres Großvaters. Ich war mehr bei meinem Großvater als in meinem Elternhaus aufgewachsen, das war auch schon so in Bessarabien. Deshalb fuhren wir zuerst dorthin. Mitten auf dem Hof standen vier Bulldogs. Da kam eine junge Frau aus dem Hause. Unser Dolmetscher und Taxifahrer haben mit ihr Polnisch gesprochen, und sie gleich rein, dann kam eine ältere Frau heraus, das war die Mutter. Sie war drei Jahre jünger als ich. Ich sagte zum Dolmetscher, er möge bitte der Frau verständlich machen, dass wir hier mal gewohnt haben , mein Großvater und ich, und ob es erlaubt wäre, hier auf dem Hof und im Garten zu filmen. Und als sie hörte, das ich Deutsch spreche, fing sie auch gleich an Deutsch zu reden. Ich kannte sie aber nicht. Sie sagte: Ja, filmen Sie, so viel Sie wollen! Die Kühe waren auf der Weide wie zu Großvaters Zeiten. Nachher rief sie zu meinen Geschwistern: Wenn Sie fertig gefilmt haben, dann kommt zum Essen! Meine Schwester meinte, wir wollen uns nur hier etwas umschauen. Die Frau ließ nicht nach, nachdem wir mit Filmen fertig waren, holte sie uns rein zum Essen. Tochter und Schwiegertochter fingen fleißig an zu kochen. Die Frau sagte zu uns: Gäste im Haus, ist Gott im Haus! Das muss man sich mal vorstellen, eine polnische Frau sagt so etwas. Und wir durften auch nichts abschlagen. Das alles hat am Ende vier ein halb Stunden gedauert. Der junge Mann des Hauses kam dann auch mit Krawatte an, er kam gerade von der Kirche nach Hause, und da hat es sich herausgestellt, dass er diesen Hof gekauft hat. Dann fuhr der junge Mann mit uns auf den Hof, wo meine Eltern angesiedelt waren. Diesen Hof hatte er auch gekauft. In dem Haus dort wohnen Mieter, und die Stallungen sind auch zusammengefallen, weil er sie nicht braucht. Wir mussten aber wieder zurück zu der älteren Frau um noch Kaffee zu trinken. Die Bilder wollen wir unserer Mutter zeigen, sagte ich und sie sagte, wir sollten doch unsere Mutter das nächste Mal mitbringen." .